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WEEKLY CRUSH

Stella B. Bohn

12. Januar 2023

Neues Jahr, neues Ich

Es ist wieder diese Zeit des Jahres, in der die Werbeanzeigen von Diät- und Fitnessprogrammen kollektive Ohrfeigen austeilen und die Parole Neues Jahr neues Ich wie ein faschistisches Mantra die Räume der Stadt durchdringen. Ein neues Jahr ist angebrochen, zumindest nach dem gregorianischen Kalender, und wie jedes Jahr, soll alles anders werden: gesünder ernähren, Sport treiben, Social Media reduzieren, auf Reisen gehen, früh aufstehen, Routine pflegen, öfters ausstellen, kreativer sein, Nein sagen lernen, Kurzstreckenflüge vermeiden… was sind die deinen? vor_sätze.

Neues Jahr, neues Ich

Schon komisch, wie Selbstoptimierung im Kapitalismus als Werkzeug zur erhöhten Ausbeutung und Kapitalgenerierung zelebriert wird und wie Neujahr scheinbar zum Symbol dieser Bewegung figuriert. Ich sage komisch, meine damit aber typisch. Ein neues Jahr ist angebrochen, zu einem Zeitpunkt des Zyklus, in dem sich alles ein wenig wie sterben anfühlt. Winterzeit. Grau und kalt (zumindest sollte es kalt sein. 18° im Januar bringt die Essenz von Sterben auf eine andere Dimension, wie ich finde). Momente der Ruhe und des Rückzugs, der Reflektion, des banalen Existierens mit viel Schlaf und gutem Essen: Dazu sollte der Winter gut sein. Alles Eigenschaften, die sich gegen eine Produktivität sträuben. Typisch also, braucht es da Slogans, die die Menschen aus ihren Betten peitschen und an die Arbeit an sich selbst und noch mehr fürs Kapital spurten.

Neues Jahr, neues Ich

Wie würden wir diese Saison wohl verbringen, wenn wir weniger Verpflichtungen hätten?Wie würden sich zwölf Stunden Schlaf anfühlen, wenn sie mit Grundbedürfnis statt mit Faulheit konnotiert wären? Wie würden wir arbeiten, wenn Müdigkeit nicht versteckt werden müsste? Wonach wäre uns jetzt, wenn die nächste Deadline nicht warten würde?

Neues Jahr, neues Ich

Dieses Jahr will ich kein neues ich, sondern ein neues System. Eines, in dem wir mehr wir sein dürfen, eines, in dem unserer Müdigkeit und Trauer so viel Raum wie unserer Produktivität gebührt. Ich will ein System, das sich Empathie und Verständnis erlauben kann, und sich nicht von deren Defizit ernährt.


Ein erholsames neues Jahr wünsch ich dir

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